Der Blaue Kunigundenmantel (Diözesanmuseum Bamberg, Inv.-Nr. 3.1.0001), entstanden um das Jahr 1014 im Umfeld Kaiser Heinrichs II., ist das weltweit älteste erhaltene liturgische Gewand mit einem flächenfüllenden Bildprogramm. Der Mantel präsentiert sich als ausgebreiteter Halbkreis mit einem System aus 56 Medaillons, die biblische Personen zeigen. Ihr Umlauf zeigt jeweils eine die bildliche Darstellung thematisierende Umschrift, die Kirchengesänge der Entstehungszeit aufgreift: Es sind Textanfänge von Antiphonen und Responsorien, liturgischen Gesängen also, wie sie beim monastischen Stundengebet erklangen. Sie entstammen den Festen der Advents- und Weihnachtszeit, der Apostelfürsten und der Propheten.
Im Mittelpunkt des Vortrages steht der spannende Prozess, den goldgestickten liturgischen Gesang zum Klingen zu bringen. Es geht um die weitestgehende Annäherung an die Musik, also die Rekonstruktion klanglicher Fassungen, die zeitlich und inhaltlich am nächsten am Blauen Kunigundenmantel liegen. Die frühesten Musikhandschriften mit derartigen Gesängen, u. a. solche aus der Staatsbibliothek Bamberg vom Ende des 12. Jahrhunderts bzw. aus der Österreichischen Nationalbibliothek aus der Zeit um 1200, notieren sie in Form linienloser Neumen, die keine Tonhöhen liefern. Durch den Vergleich mit etlichen späteren Handschriften, die Neumen auf Linien überliefern, aber nicht in allen Melodiedetails mit den älteren Notationen übereinstimmen, erstellte Ellen Hünigen Rekonstruktionsfassungen, um letztlich nach den alten linienlosen Notationen singen zu können.
Für die virtuelle Ausstellung Kaisergewänder im Wandel – Goldgestickte Vergangenheitsinszenierung produzierte das Vokalensemble Stella Nostra Aufnahmen von 13 Gesängen. Bei den Antiphonen singt jeweils eine Sängerin solistisch die 1. Hälfte des Psalmverses, auf die alle drei Sängerinnen chorisch mit der 2. Hälfte antworten, gefolgt von der kleinen Doxologie.
Ellen Hünigen arbeitet als Komponistin, Sängerin, Clavichordspielerin und Musikwissenschaftlerin. Sie ist Gründungsmitglied der Vokalensembles Vox Nostra und Stella Nostra und Mitglied des Ensembles Musikalischer Religionsdialog, das jüdisch, christlich, muslimisch und hinduistisch geprägte Musik zusammenbringt. Sie gibt als Dozentin Kurse zu Vokalmusik des Mittelalters und der Renaissance und Unterricht in Musiktheorie und Klavier.
Dieser Vortrag ist der vierte innerhalb der zwölfteiligen Reihe Bamberger Buch-Geschichten 2022/23. Die Vortragsreihe wird in Zusammenarbeit mit der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, der Volkshochschule Bamberg Stadt, dem Colloquium Historicum Wirsbergense und dem Historischen Verein Bamberg durchgeführt.